Ich bin Mensch. Punkt.
Gunther/Anna aus Rankweil
Gunther und Anna Wetzel (49) sind ein und dieselbe Person. Der bekannte Sternen-Wirt aus Rankweil sagt, er sei weder Mann noch Frau, er sei Mensch. Sein bemerkenswertes Bekenntnis ist ein Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit.
Text: Brigitta Soraperra, erschienen in der Februarausgabe der Straßenzeitung „marie“
Gleich zu Beginn unserer Begegnung spricht Gunther Wetzel erstmals das Wort „Planänderung“ aus, das zu einer verlässlichen Konstante in seinem Leben geworden sei. Denn obwohl er immer wieder Pläne mache, komme es dann sowieso meist ganz anders – sowohl im beruflichen wie im privaten. Als er vor mittlerweile 20 Jahren ins elterliche Gasthaus, das für sein reichhaltiges Biersortiment überregional geschätzte „Sternenbräu“ in Rankweil, eingestiegen ist, hätte er sich nicht gedacht, dass er ihn mit knapp 50 Jahren Jahren aus wirtschaftlichen Gründen verkaufen müsse. Obwohl „Der Sternen“, den Wetzel gemeinsam mit seinem Vater Helmut führt, heute Kultstatus hat, muss er im Herbst 2020 einem Wohnhaus weichen. Der Juniorchef erklärt offen, dass das Scheitern auch mit seiner eigenen, sehr besonderen Geschichte zu tun hat, der dieser Text gewidmet ist.
Junge Römer
Gunther ist neun Jahre alt, als er das erste Mal den Kleiderschrank seiner Mutter plündert und heimlich ein Kleid anzieht. Seitdem hat ihn das Bedürfnis nach Frauenkleidern und das damit verbundene Gefühl der „Richtigkeit“, wenn er sie trägt, nie mehr losgelassen. Was er heute als „klassische Transkarriere“ bezeichnet, sind die Gefühle von Scham, die Heimlichtuerei, das Verleugnen und Verdrängen, die seine Jugend- und frühe Erwachsenenzeit prägen. Mit Bungee-Springen, schnellen Autos und „Alkohol in Massen“ überspielt er sein „weibliches Ich“. „Ich habe versucht, die Klischees zu erfüllen, bin so rumgelaufen wie Falco im Video ‚Junge Römer’, mit gegelten Haaren und in Lederklamotten, und wollte mir selber beweisen, dass ich ein richtiger Kerl bin.“ Es sei ihm einzig darum gegangen, sich selber zu finden, sagt der heute 49-Jährige, aber es funktionierte nicht: „Ich habe in der Früh, wenn ich den unrasierten Typen im Spiegel gesehen habe, gewusst, das bin nicht ich.“
Männlich-weibliches Tauziehen
Wieso ein Mensch „trans“ (lateinisch: „jenseitig“) ist, das heißt sich in seinem eigenen Geschlecht nicht Zuhause fühlt, darüber gibt es verschiedene Vermutungen. Wissenschaftlich bewiesen ist, dass ein einziges Gen beim Fötus festlegt, ob das Kind weiblich oder männlich wird. In jedem Menschen gibt es so etwas wie „ein Tauziehen zwischen der einen und der anderen Seite“ erklärt Gunther Wetzel, der sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Generell weiß die Forschung, dass das binäre Geschlechtsmodell – also die Zweigeschlechtlichkeit – nicht der einzigen biologischen Realität entspricht. Ganz ursprünglich waren alle Lebewesen auf der Erde eingeschlechtliche Einzeller, die sich durch Zellteilung vermehrten. Bei verschiedenen niedrigen Lebensformen ist das heute noch so. Nacktschnecken wiederum sind sowohl Männchen als auch Weibchen, und die im Meer lebenden Pantoffelschnecken besitzen ebenso beide Geschlechter, aber nicht gleichzeitig – sie können ihr Geschlecht im Laufe ihres Lebens ändern, je nach Bedarf und Umweltbedingungen.
Sieben Milliarden
Auch Menschen werden nicht alle mit einem eindeutigen Geschlecht geboren. Die Häufigkeit von Intersexualität bzw. Intergeschlechtlichkeit liegt bei ungefähr 1 zu 1500. In Österreich leben dementsprechend zwischen 8000 bis 12.000 – in Deutschland sogar 80.000 bis 120.000 – Personen, die ohne eindeutige Geschlechtsorgane geboren worden sind (Quelle: www.vimoe.at). Tragischerweise tut sich unsere Hellblau-Rosa-Gesellschaft schwer mit Uneindeutigkeit, was bereits bei Säuglingen zu schwerwiegenden operativen Eingriffen und oft zu lebenslangem Leiden führt. Gunther Wetzel, der die Zahl der Betroffenen von „Transidentität“, also von Personen die sich – wie er – nicht oder nicht nur mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, in Vorarlberg bei zirka 8000 ansetzt, spricht davon, dass es im Endeffekt, sieben Milliarden Geschlechter auf der Welt gibt, „weil jeder Mensch sein eigenes ist. Nur weil ich die gleichen Körpermerkmale habe, heißt das nicht, dass ich gleich funktioniere.“ Heute sieht er seine Situation pragmatisch: „Ich bin der Überzeugung, dass es im Endeffekt nur ein Geschlecht gibt, und das ist Mensch. Punkt.“
Ich bin viele
Gunther Wetzels Weg zur Versöhnung mit sich selbst ist allerdings lang und schmerzhaft. Als er sich mit 19 Jahren das erste Mal verliebt, in eine Frau, denkt er, sein „weibliches Ich“ werde ihn nun in Ruhe lassen. Aber „wie soll eine Partnerin mich lieben, wenn ich mich selber nicht mag?“ Als die Beziehung nach drei Jahren scheitert, ist „Sie“ mit voller Wucht dann wieder da. Wetzel, der zunächst die HTL Rankweil besucht und dann eine Kellnerlehre absolviert hat, entdeckt zu Beginn der 1990er Jahre das Internet. Eine neue Welt tut sich ihm auf, schlagartig erkennt er, dass er nicht allein ist. „Ich dachte dann zwar, ‚die’ sind alle in Deutschland und im Ausland und sicher nicht in Vorarlberg, aber ich habe gesehen, dass es viel mehr von meiner Sorte gibt.“ Es folgen die ersten Schminkversuche und Ausflüge nach München, wo er sich erstmals gestylt, in Frauenkleidern und mit Stöckelschuhen auf die Straße traut. „Das Beste, was einem Transmenschen passieren kann, sind Menschenmassen, denn da fällst du nicht mehr auf.“
Zumutungen
Die Möglichkeit, hin und wieder seine Sehnsüchte woanders auszuleben erleichtert Gunther Wetzel allerdings nicht. Depressionen und Suizidgedanken quälen ihn, die Kellnerlehre freut ihn wenig, genauso wie die Arbeit im elterlichen Gasthaus. Mit 30 ist er sich sicher, dass er aus Vorarlberg weggehen muss, wenn er ein halbwegs zufriedenes Leben führen will. In diesem Moment tritt eine Frau in sein Leben, eine, wie er sie bisher noch nicht kennengelernt hat: offen, herzlich, Mutter von drei Kindern und mit beiden Beinen im Leben. Sie verlieben sich, heiraten, bekommen ein Kind, später noch eins. Gunthers Frau weiß lange nicht von seiner „anderen“ Seite, die er nur mehr heimlich über die sozialen Netzwerke lebt: „Ich dachte, das kann man einer Frau nicht zumuten.“ Als sie ihn eines Tages in Frauenkleidern erwischt, ist es ein kompletter Schock für sie. Von Transsexualität hat sie noch nie gehört, sie weiß gar nicht, was das ist. Die beiden reden eine Nacht lang durch, Gunther hat größte Angst, seine große Liebe zu verlieren. Am Morgen ist klar, dass sie zusammenbleiben wollen. Sie fahren zusammen nach Deutschland zu einem Transstammtisch, weil Gunther ihr andere Menschen zeigen will, die „so sind wie ich“. Ihr gemeinsames Leben führen sie weiter und ab und zu fährt Gunter nun ins Ausland, wo er als „Anna“ in der Transcommunity unterwegs ist.
Krieg gegen sich selbst
„Es kam der Moment, wo ich nicht mehr umschalten konnte, als ich zurückgekommen bin“, erzählt Gunter Wetzel im Hinterzimmer seines Wirtshauses. „Die klassische Männerrolle, die ich hier immer vorgespielt habe, die konnte ich auf einmal nicht mehr leben.“ Er fühlt sich als Schauspieler, da ist er um die 40. „Mein Wesen ist irgendwo in der Mitte drin, wenn ich als Frau unterwegs bin, fühle ich mich echt, nicht als Schauspielerin“. Irgendwann fängt er an, sich den Bart wegzulasern. Trotzdem geht es ihm nicht gut, Depressionen quälen ihn, er vermutet eine Midlife-Crisis und bekommt den Tipp, in eine Therapie zu gehen. In Vorarlberg gibt es aktuell zwei Therapeutinnen, die auf die Thematik „Transidentität“ spezialisiert sind, er entscheidet sich für Margit Türtscher-Drexel in Dornbirn. „Ich wollte die Therapie machen, um mit mir selber Frieden zu schließen“, sagt Gunther Wetzel, denn „ich habe mein ganzes Leben lang Krieg gegen mich selber geführt.“
„Ist okay, Papa“
Die therapeutische Begleitung, die klare Diagnose, dass er „transident“ ist, und eine Hormontherapie sind der erste Schritt zu Gunther Wetzels Ganzwerdung. Der Sternenwirt gibt offen zu: „Wenn ich mein Leben früher in den Griff bekommen hätte, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen mit dem Sternen, andererseits hätte ich mich früher nicht outen können, denn da war Vorarlberg noch nicht so weit“. Er erzählt auch etwas Berührendes: „Und ich hätte meine Kinder nicht kennengelernt“. Denn als für ihn klar ist, dass er öffentlich zu sich stehen muss, „sonst wäre ich vor die Hunde gegangen“, sprechen er und seine Frau als erste mit den Kindern, mit jedem und jeder der fünf einzeln. Sie sind zwischen 11 und 27 Jahre alt, alle reagieren sie gleich: „Ist okay, Papa.“
Freiräume
Vorarlberg selbst ist heute zwar noch nicht ganz so weit wie die Wetzel-Kinder, es existieren durchaus Häme und böse Worte, aber „nie mir direkt ins Gesicht“, sagt der mittlerweile auch zweifache Großvater. Dennoch hat sich auch hierzulande einiges getan: Es gibt beispielsweise „s’Freiräumle“ in Hohenems, ein zwangloser Treffpunkt für Transpersonen im ProKonTra, es gibt eine Selbsthilfegruppe in Dornbirn, es gibt Menschen, die offen mit ihrem angepassten Geschlecht leben, es gibt andere die „stealth“ (engl. „unsichtbar“) unterwegs sind, denen niemand ansehen würde, dass sie mit einem anderen Geschlecht geboren worden sind. „Bei uns wird leider das Wort ‚Transsexualität’ verwendet“, sagt Gunther Wetzel, das sei ein verfängliches Wort, „weil es impliziert, dass das Ganze nur mit Sex zu tun hat. Kompletter Quatsch!“ Er kenne Transmenschen, für die Sexualität überhaupt keine Rolle spiele, und Transmänner, die auf Frauen stehen und Transfrauen die auf Männer stehen. „Ich selber stehe auf Frauen, was wiederum viele verwirrt.“ Am Ende unseres Gesprächs formuliert Gunther Wetzel einen kleinen Tipp an die Gesellschaft: „Wenn jemand weiblich gekleidet ist, wird dieser Mensch wahrscheinlich nicht als ‚Er’ angesprochen werden wollen.“
Planänderungen
Es ist gesellschaftlich noch ein längerer Weg bis zur kompletten Akzeptanz von Menschen jenseits der Norm, und es müssen in Österreich auch noch wichtige politische Entscheidungen getroffen werden, um das Leben von transidenten Personen zu erleichtern. Dass wir als Gesellschaft aber fähig sind, mit Unerwartetem und Unbekanntem umzugehen, haben wir im vergangen Jahr als Reaktion auf politische Skandale und die durch sie bedingten „Plandänderungen“ durchaus bewiesen.
Dieser Artikel erschien in der Februar-Ausgabe der marie Straßenzeitung, geschrieben hat ihn Brigitta Soraperra. Wir bedanken uns bei der marie für die Kooperation und die Möglichkeit, den Artikel weiterverwenden zu dürfen. Mehr Ausgaben der Straßenzeitung marie findet man hier.