Es geht um Zeit
Désirée aus Wolfurt
Désirée Höfle hat einen 2 1/2-jährigen Sohn und erwartet im Juni ihr zweites Kind. Obwohl sie schon annehmen kann, dass ihr Kind ein Mädchen sein wird, fragt sie sich: Wie würde sie selbst damit umgehen, wenn ihr Kind intergeschlechtlich zur Welt kommen würde?
Wenn sich Désirée überlegt, seit wann die Frage nach dem Geschlecht ihres Kindes gestellt wird, fällt ihr ein Gespräch ein, das schon lange vor der Schwangerschaft stattgefunden hat. „Mein Partner und ich waren schon sehr lange zusammen, und als wir bezüglich Kinder etwas konkreter wurden, haben wir dann auch gleich über das Geschlecht gesprochen. Glücklicherweise waren wir beide gleich eingestellt: Es war uns nicht wichtig.“
Désirée kennt aber durchaus Eltern, die Idealvorstellungen haben. Meistens ein Junge, ein Mädchen. Als zum Beispiel klar war, dass Désirée nach ihrem Jungen nun ein Mädchen bekommen würde, gab es viel Freude im Umfeld. Perfekter ginge es nicht, das wünsche sich doch jede*r, so der Tenor. Spielt das Geschlecht also vor der Geburt schon eine Rolle? Laut Désirée spiele es nicht nur eine Rolle, es sei omnipräsent: „In meiner Schwangerschaft fragte man uns manchmal sogar zuerst, welches Geschlecht wir uns beim Kind wünschen würden, bevor man sich erkundigte, ob es mir und dem Kind eigentlich gut ginge. Und das bereits ab der Frühschwangerschaft.“
Am Thema vorbei komme man auch nach der Geburt nicht. „Eigentlich lehne ich stereotype Erziehung ab, aber ich muss ehrlich sein: Es macht dann doch einen Unterschied.“ Unbewusst würde man geschlechtertypisches Verhalten reproduzieren, in der Art wie man mit dem Kind umgeht.
Was wäre wenn…
Désirée stellt sich vor, wie es für sie wäre, wenn man bei der Geburt das binäre Geschlecht nicht eindeutig bestimmen könnte. „Ich glaube, ich würde aus allen Wolken fallen. Ich wäre total überfordert. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass ich sehr schnell mein Kind sehen würde, mit allem was es in dieser Zeit nach der Geburt von mir als Mutter braucht.“ Vor diesem Gespräch hat Désirée dieses Thema nur gestreift, wüsste so wie die meisten Eltern nicht, welche Möglichkeiten es überhaupt gäbe.
Der Druck müsste jedenfalls sehr hoch sein, ist sich Désirée sicher. Die enge Familie beispielsweise würde sehnsüchtig auf eine Antwort zum Geschlecht warten. Hier weiß Désirée, dass sie offen damit umgehen könnte, denn sie kann sich auf den Rückhalt aus ihrer Familie verlassen. Und trotzdem bliebe die Frage, was man jetzt mit der Situation macht. Den anderen sagen, wie es ist? Erstmal vertrösten? Oder doch für die erste Zeit ein Geschlecht zuordnen? Beim erweiterten Bekanntenkreis wäre sich Désirée nicht sicher, ob sie sich gleich dazu bekennen könnte oder überhaupt wollen würde, da es doch eine sehr intime Angelegenheit wäre. Und einerseits warten auch die Bekannten auf eine Info zum Geschlecht, andererseits stellt sich aber gerade beim nicht engsten Kreis die Frage, wie man mit dem sozialen Druck umgehen würde. Möglicherweise wäre es genau der Druck der Menschen, die man gar nicht so gut kennt, der am stärksten zu spüren und schwer auszuhalten wäre.
Und was, wenn die Ärzt*innen zu einer Operation rieten? Désirée ist sich nicht sicher, sie kann nicht sagen, wie sie in so einer Situation reagieren würde. Die Vorstellung sei beängstigend, Entscheidungen treffen zu müssen, die irreversible Auswirkungen auf das ganze Leben hätten. Und sie merkt, wie wichtig Zeit wäre. Es mache eben einen großen Unterschied, ob man sich gleich entscheiden müsste oder sich ein paar Monate Zeit lassen könnte. Désirée würde diese Zeit nutzen, um Beratungsstellen aufzusuchen und den Kontakt zu anderen Eltern suchen, die in einer ähnlichen Situation gewesen sind. Denn je weiter man in die Zukunft des Kindes blicke, desto mehr Fragen tun sich auf. Zum Beispiel, wie sehr könnte sich Désirée darauf verlassen, dass ihr Kind auch intergeschlechtlich in der Schule angenommen wird? Könnte man sich trotz einer Intergeschlechtlichkeit auf ein binäres soziales Geschlecht festlegen? Und was ist eigentlich besser für die Entwicklung eines Menschen: Sich anpassen oder mit dem Unterschied offen umgehen?
Was Eltern brauchen
„Mein Mann und ich würden uns sicher auch gleich fragen, was es heißen würde, wenn wir uns bei der Geburtsurkunde auf ein Geschlecht festlegen würden, das danach möglicherweise wieder geändert werden müsste. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass dieser dritte Geschlechtseintrag in so einer Situation wirklich eine riesen Erleichterung sein kann, wenn man eh schon so überfordert ist.“
Neben dem dritten Geschlechtseintrag findet Désirée aber, dass es zu dem Thema – auch wenn es im Verhältnis eine geringe Zahl von Menschen betrifft – mehr Aufklärung benötigt. In Geburtsvorbereitungskursen, in den Medien und beim Personal im Krankenhaus, das in dieser Situation eine Schlüsselrolle hat. Désirée ist jedenfalls froh, sich einmal intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben: „Nicht einmal, wegen mir. Wer weiß, vielleicht habe ich mal eine Freundin, die in dieser Situation steckt und dann kann ich ihr jetzt besser zur Seite stehen.“
Von tausend Kindern kommen geschätzte ein bis zwei Kinder offensichtlich intergeschlechtlich zur Welt. Im medizinischen Bereich gilt Intergeschlechtlichkeit mehrheitlich immer noch als zu behandelnde Krankheit oder Störung. Tatsächlich ist Intergeschlechtlichkeit kein medizinisches Problem. Stattdessen ist Interfeindlichkeit/Interphobie in der Gesellschaft oft die Ursache von unnötigen, nicht-konsensuellen Behandlungen und anderen Formen von Diskriminierung. Damit dies nicht so bleibt, ist der Verein VIMÖ aktiv geworden. Gemeinsam mit VIMÖ haben wir diesen Beitrag erstellt – danke für die Beratung und Unterstützung. Mehr Informationen zum Thema Intergeschlechtlichkeit findet man auf der Vereinsseite.
Update 10. Juni 2020
Wir haben zu diesem Beitrag auch Rückmeldungen erhalten über die Problematik, dass hier keine Interperson erzählt, sondern über Interpersonen gesprochen wird. Über das Netzwerk von VIMÖ und unser eigenem haben wir leider keine Interperson oder Angehörige aus Vorarlberg finden können. Gemeinsam haben wir uns dann für diese hypothetische Variante entschieden, die aus der Sicht von werdenden Eltern, welche große Rolle im Leben von Interpersonen spielen, erzählt wird. Wir sind dankbar für weitere Rückmeldungen, Feedback und Kritik: Bitte sendet diese an mitmachen@mission-pride.at